Ich will mir meinen Applaus verdienen
Es ist Freitag, der 23. Juni 2023, der lang ersehnte Abreisetag für den morgigen Swissman Start in
Ascona ist da.
Alles ist vorbereitet, die Routine der vergangenen Anlässe hat mir das Packen erleichtert und das
Auto ist bereits mit Velo und dem ganzen Material beladen.
Vor der Abreise noch schnell von der Familie verabschieden und los geht’s.
Schutzengel und Supporter – Harry und Xeno
Harry und Xeno warten bereits, dass sie abgeholt werden. Sie sind Schutzengel und Antreiber
zugleich und an für ein solches Projekt unverzichtbar. Nun fahren wir von Wettingen in Richtung
Süden zum Start in Ascona. Ich spüre, wie die erste richtige Anspannung aufkommt und versuche sie
durch Reden etwas abzubauen… was als Ablenkung auch gelingt.
Als eingespieltes Team erreichen wir unsere erste Pause mit dem obligatorischen Kaffee auf der
Raststätte «Gotthard Nord». Ich melde mich bei Christian (Hitsch), einem Vereinskollegen vom
Triathlon Club Baden, der mit seinem Team auch am Swissman dabei sein wird, um zu erfahren, ob
seine Reise gut verläuft.
Der Gotthardtunnel ist geschafft, jetzt wird es ernst. Ich sehe schon die Streckenabschnitte, die ich
morgen mit dem Velo fahren werde und merke schon jetzt, dass es sehr windig ist. Aber davon lass
ich mich nicht beeindrucken auch wenn mir ein bisschen mulmig wird.
Abkühlung im Lago Maggiore
In Cungasco essen wir im Restaurant «Pizzeria Del Ponte» zu Mittag. Es gehört seit Jahren zur
Verpflegungsroutine vor dem Swissman. Ich esse eine extra grosse Portion Spaghetti mit
Meeresfrüchte; damit ich proteinreich und Kohlenhydrate laden kann. Meine innere Anspannung
und Nervosität versuche ich nach wie vor mit nicht allzu tiefgründigen Gesprächen zu überspielen.
Noch zirka 20 Minuten sind wir in Ascona, dem Ausgangspunkt, angekommen. Im «Bango publico»
von Ascona ist alles vorbereitet. Dort holen wir unsere Startnummern ab und bekommen noch die
letzten Infos zur Veranstaltung. Christian (Hitsch) ist auch da und ich kann sehen und spüren, dass
auch er angespannt ist. Wir tauschen uns noch ein wenig aus und verabschieden uns dann bis zum
gemeinsamen Abendessen.
Ach ja da war ja noch was, die Brand Markierung.
Der Rest des Nachmittags vergeht im Fluge. Xeno und ich springen noch kurz in das kühle Wasser des
Lago Maggiore, um für einen kurzen Moment ein Gefühl des Ankommens zu bekommen.
Das Abendessen – dunkle Wolken am Horizont
Die Spannung von Christian und mir beim Essen war spürbar. Unsere Supporter-Teams haben sich
wieder einmal als sehr kompetent und fürsorglich gezeigt. So z.B. wurde weniger über den Anlass
geredet und mehr über den Ort und die Leute
Es ist sooooo viel wert, wenn man ein Top Team hat.
Auf die Frage, wie das Wetter und der Wind am nächsten Tag sein würde, kamen beruhigende
Nachrichten. So meinte Christoph (Supporter von Christian) dass es warm und dass der Wind nicht so
stark sein würde. Wird es wirklich so sein wie die Vorhersagen angekündigt haben?
Zurück in die Wohnung und die erprobten Salzkartoffeln kochen, die am nächsten Tag eine grosse
Rolle in meiner Verpflegung spielen werden.
Schlafen – bis 2.20 Uhr in der Früh
Es ist erst 21 Uhr, Bettruhe wäre angesagt. Aber wie soll man schlafen, wenn man so aufgedreht ist?
Naja schliess einfach mal die Augen und warte, dachte ich mir.
Um 2:20 Uhr läutet der Wecker, OK das Augenschliessen hat also doch was gebracht…
Jetzt wird es ernst, jeder Handgriff muss sitzen.
Morgenpflege, Sonnencreme, ausgiebig frühstücken, Neoprenanzug und Schwimmbrille bereitlegen
usw. und noch ein bisschen Ablenkung und ehe man sich versieht ist es Zeit zu gehen.
Xeno und Harry begleiten mich noch ein Stück bis dann Harry in die Wechselzone abbiegt um für
mich alles vorzubereiten, damit ich nach dem Schwimmen auf die Velostrecke gehen kann.
Ich merke, wie ich immer mehr in mich gehe. Xeno begleitet mich schweigend zum Lido von Ascona
wo uns das Schiff mit allen Athleten auf uns wartet, um uns zu den Brissago Inseln zu bringen.
Am Lido treffen wir auch Christian und seinen Supporter. Wir verabschieden uns von unsern
Supporter und mischen uns unter die anderen 230 Athleten, die auf das Schiff wollen.
Eine sehr angespannte Stimmung liegt in der Luft und die Nervosität aller 230 Athleten ist
unbeschreiblich. Jeder versucht sich auf seine Art zu finden und zu entspannen. Dem einen gelingt es
besser als dem anderen.
Kurz vor der Ankunft an den Brissago Inseln, schaue ich mit Christian auf das Wasser. Eine kleine
Sorge steigt in mir auf……. Ich sage nur noch: Christian ich glaube wir werden Wellen haben.
Wir sind schon beim Aussteigen und die Zeit drängt. Der Speaker drängt uns freundlich in Richtung
Wasserstart.
Und dann die Überraschung
Von vorne blies ein sehr starker Wind über die Wasseroberfläche und über unsere Köpfe. Wir hatten
noch etwas Schutz durch die beiden Inseln, aber der Wind pfiff uns schon um die Ohren. Wellen;
Wellen von überall, das ist nicht gut.
Pünktlich um 5:00 Uhr ertönte der Startschuss und mit einer Signalrakete begann für die 230
Athleten das neue Erlebnis.
Es wurde angekündigt, dass am Horizont ein Leuchtsignal blinken würde. Wo ist es denn? Ach ja, da
sehe ich es und dann wieder nicht. Das Auf und Ab mit den Wellen macht mich und alle anderen
Teilnehmenden fix und fertig. Nach einer Weile, im Kampf um nach vorne zu kommen brauche ich
eine kurze Pause. Ich schaue so gut es geht auf die Wasseroberfläche und drehe mich einmal um
mich selbst um zu sehen, wie das Schwimmerfeld aussieht. Ich wusste, dass es mir nicht gut gehen
würde und dass ich grosse Probleme mit den starken Wellen haben würde. Aber ich sah, dass hinter
mir keine weitere Teilnehmer waren.
Was ich bin der Letzte?, schoss es mir durch den Kopf. Das kann doch nicht sein. Voller Frust
schwimme ich weiter und weiter, kämpfe mich durch den ganzen Wellentanz um dann im letzten
Abschnitt endlich aus der gewaltigen Strömung herauszukommen und nur noch wenige hundert
Meter bis zum Ausstieg zu haben.
Jetzt merke ich, dass ich bei weitem nicht der Letzte war, sondern, dass ich durch die Wellen keine
anderen Teilnehmer mehr sehen konnte. Dass die Schwimmzeiten aller Teilnehmer durch die Wellen
und die Strömung stark gelitten haben brauche ich nicht weiter erwähnen.
Eines ist klar. Ich war noch nie so froh aus dem Wasser zu kommen. Kommt es jetzt auf die Sekunden
an, die ich in der Wechselzone verbringen werde? Nein, eigentlich nicht. Ich sagte mir: «Ruh dich aus
und lass dir Zeit, denn der Tag ist noch lang». Ich bin bereit für die Velo Strecke.
Mit dem Velo gegen den Windgott Aiolos
Gut vorbereitet starte ich meine Tour ohne zu viel Druck in die Pedale zu geben. Einige der
Velofahrer, die ich am Anfang überholen kann, sehen schon ziemlich erschöpft aus. Unbeirrt halte ich
an meiner Strategie fest, mit meinen Kräften hauszuhalten und mich vom Schwimmen etwas zu
erholen.
Schon auf den ersten 10 Kilometern wurde immer deutlicher, dass es Windgott Aiolos es nicht gut
mit uns meinen würde. Und so kam es dann auch. Von Ascona bis zur Gotthardpasshöhe verlangte
der Wind die Alte Passstrasse (Tremola) unseren Beinen alles ab. Meine erste richtige Krise machte
sich bemerkbar.
Wohlwollend sagte ich mir: «Den Applaus habe ich mir verdient»; mach weiter.
Der Rest der Fahrt über den Furka (2436 Hm) und Grimsel (2164 Hm) fühlten sich schon fast an als
ob sie wären Formsache wären, denn der Wind fing an sich zu beruhigen.
Wie war das noch mit den Salzkartoffeln? Erinnert ihr euch noch?
Tja, da mein Magen und mein Darm die Sportriegel nicht mehr so gerne mag, musste ich mich nach einer
Alternative umsehen. Meine Suche endete, als ich die Kraft der Kartoffel entdeckte. Bei jeder kleinen
Pause wurde ich mit einer Kartoffel versorgt. Es gab keinen Moment an dem ich die kleine Knolle mit
etwas wenig Rührei und Bouillon nicht essen wollte.
Alle meine Sorgen mit dem Magen & Co. waren an diesem Tag Geschichte.
Nun muss ich nur noch etwas Optimieren und ich habe hoffentlich mein Rezept für mich gefunden.
Auf der Passhöhe des Grimsel angekommen, erkundigte ich mich zum ersten mal nach Christian und
wie es ihm geht. Xeno und Harry sagten mir, dass er konstant fahre und einen Vorsprung von ca. 30
Minuten habe.
Laufstrecke – Durchbeissen bis zum Letzten
Die Ankunft am Brienzer See verlief ohne grosses Spektakel. Gemütlich, schnell Kleidung und Schuhe
gewechselt, ein kurzes Smalltalk mit meinem Team und schon ging es los.
Die ersten 10 Kilometer konnte ich noch einige Kräfte mobilisieren und Harry, der mich auf dem
Mountainbike begleitete, war steht’s an meiner Seite, um mich an Essen und Trinken zu erinnern.
Aber es kam wie es kommen musste. Die Batterien waren leer.
Ab km 12 war an Rennen nicht mehr zu denken. Das Bergab rennen bereitete mir Schmerzen in den
strapazierten Oberschenkeln, die Müdigkeit in meinem Körper war nicht mehr wegzudiskutieren.
Jetzt ging es nur noch um Willen und Durchbeissen. Die nächste Krise kam und wieder sagte ich mir
«Ich habe den Applaus verdient»
Und wer es noch nicht selbst verstanden hat, dem kann ich jetzt sagen das «Team ist alles».
Harry hatte mich in seiner Art motiviert wo es möglich war und mich in Ruhe gelassen wo es nötig
war. Xeno hat mich mit seiner sportlichen frischen Art gepusht und instinktiv angepackt, wo er sehen
und spüren konnte, dass es nötig war.
Entlang des Brienzer See brennt die Sonne, meine Beine schmerzen und ich habe nur einen Wunsch –
ich will mit meinen Beinen ins kühle Nass. Schnell die Laufschuhe ausgezogen und im Nu stehe ich bis
zu den Oberschenkeln in einem Zufluss des Brienzer Sees, um mich abzukühlen. Das war bis zu diesem Zeitpunkt wirklich das Schönste am ganzen Tag.
Wir sind schon bei KM 23 angekommen. Zuvor beschwerte ich mich, dass ich keine Flüssigkeit mehr
von den auf der ganzen Strecke vorhandenen Brunnen oder sonst auch von Harry zu mir nehmen
kann, aber für eine Abkühlung sind die Brunnen einen echten Segen.
Auf die erneute Frage, wo denn Christian sei, hiess es, dass er unverändert ca. 30 Minuten vor mir
war.
Nun war es Zeit für die Bouillon. Was für die Gallier bei Asterix und Obelix der Zaubertrank war, war
für mich die Bouillon und die Kartoffel. Ich nahm einen Becher davon und marschierte so schnell wie
möglich weiter. Schon nach kurzer Zeit sagte ich zu Harry, dass sich mein Magen beruhigt hatte, ich
konnte wieder etwas trinken konnte. Als dann eine Dreiergruppe an mir vorbeirannte, hängte ich
mich an sie ran, um sie kurz darauf wieder zu überholen und den Lauf bis Grindelwald-Grund zu
beenden. «Ich wollte mir meinen Applaus verdienen»
Strategie für den Abschluss
Ich bin jetzt zum sechsten Mal beim Swissman dabei und diese Strategie hat mich immer ins Ziel
gebracht. Harry übergab das Zepter an Xeno, der alles für den letzten Abschnitt vorbereitete. Die
Bestzeit war schon längst kein Thema mehr. Es ging jetzt nur noch darum alles zu mobilisieren was
der Körper und der Geist noch hergaben.
Von hinten alles aufholen was nur möglich und in Sichtweite ist, egal was die letzten ca. 10 KM und
1100 Höhenmeter an Strapazen kosten. Und so war es. Mit einem Höllentempo zogen wir los und
überholten Team um Team; die Motivation war gewaltig. Xeno und ich sprachen kaum. Er hatte
verstanden, dass ich nur noch eines wollte – ein alkoholfreies Hefeweizenbier.
Harry hatte in der Zwischenzeit im Tal am Auto alles klar gemacht, um dann ebenfalls mit uns den
Zieleinlauf auf der Kleinen Scheidegg mit zu erleben.
Und so marschierten wir gemeinsam als Team auf der Kleinen Scheidegg durch die SwissmanFahnen- Allee, erschöpft, zufrieden und erleichtert war ich nun da.
«Den Applaus hatte ich mir verdient»
Und ich habe ihn auch bekommen, es war wohl der schönste Zieleinlauf, den ich je erlebt habe.
Von den 230 Startern erreichten 159 das Ziel.
Am SWISSMAN ist die Zeit zweitrangig und die Platzierung unwichtig. Es geht um das Abenteuer, das
unvergessliche Erlebnis, das die Athleten mit ihren Betreuern teilen, und darum, die
Herausforderung SWISSMAN zu meistern. Nur die persönliche Leistung und das Erlebnis inmitten
einer atemberaubenden Umgebung zählen.
Nun gönne ich mir eine Woche Pause um dann die Vorbereitungen für die nächste Herausforderung
anzupacken.
Was ist mit Christian?
Christian konnte ich nicht mehr einholen. Er kam 12 Minuten vor mir ins Ziel. Als wir uns mit grosser
Freude im Restaurant sahen und noch eine Kleinigkeit assen, erfuhren wir, dass auch er eine heftige
Krise hatte, die er bis zum Zieleinlauf durchstehen musste. Aber vielleicht erfahren wir ja noch mehr
von ihm selbst…